Hilde Spitaler (1912 – 2019) hat viel erlebt und viel zu erzählen. Für diesen Artikel gab sie einen Einblick, was Mobilität in ihrem Leben bedeutete und weshalb sie mit 75 Jahren begann, die Welt zu entdecken.
Der Rollator
Füssen, Frühsommer. Die Sonne nagt sich durch den zähen Dunst nach gefühlten Wochen Dauerregen. Hilde Spitaler atmet auf. Endlich ist das Trockentraining vorbei. 20 Minuten täglich auf dem Hometrainer und ein fantasievolles Zusatzprogramm: „Ich mache es wie ein Marathonläufer“, sagt sie und schiebt den Rollator in die Ecke. „Jeden Tag lauf ich damit 40 Minuten durch die Wohnung.“ Wobei der Rollator eher ein Beschleuniger als eine Gehhilfe ist, deshalb nennt sie ihn auch Geh-Wagen. Vom Wohnzimmer übers Esszimmer, raus auf den Flur, scharf rechts abbiegen, kurze Gerade durch die Küche, wieder scharf rechts und eine Runde ist geschafft. Jeden Tag 40 Minuten, abkürzen ist nicht erlaubt.
„Wenn ich losmarschiere, dann muss ich es auch wieder nach Hause schaffen.“ Nach Hause ist das Wohnzimmer, 40 Minuten der Weg. Hilde Spitaler wird im November 101 Jahre alt. Heute gehts raus: Schwansee, Blumenwiesen, Schloss Neuschwanstein. Der Gehwagen bleibt in der Ecke. „Mei“, seufzt Hilde Spitaler im gedehnten Füssnerisch, als sie vor die Türe tritt. „Mei ist das schön, wenn ich mich bewegen kann.“
Füssen, Kurort an den Bergen, dort wurde Hilde Spitaler im November 1912 geboren. Im selben Jahr wie Axel Springer, Josef Neckermann oder Wernher von Braun. Alle lange schon tot. Die Titanic war gesunken, der erste Weltkrieg lag drohend in der Luft. Der Vater betrieb einen Käs’-Laden in der Innenstadt. Heute ist die Altstadt romantisch, damals war sie muffig und eng. Ein verschachteltes Hinterhofsystem, das der Stadt italienisches Flair gibt. Der Vater zieht in den 1. Weltkrieg. „Wenn er zu Besuch kam, war er irgendwie fremd – anders angezogen. Er hat Kekse mitgebracht, das Proviant der Soldaten. Das war ein Leckerbissen. An Entbehrungen kann ich mich nicht erinnern, aber an den Keks. Also hat es anscheinend doch gemangelt.“ Das sind die ersten Erinnerungen von Hilde Spitaler. Jetzt schlüpft sie in die Schlaufen ihrer Nordic Walking Stöcke – eine Aufforderung zum Losmarschieren und zum zuhören, denn
Sie wird von 100 Jahren Fortbewegung erzählen:
Das erste Auto
In einer Kleinstadt wie Füssen hatten nur Männer, die dem Fortschritt durch Technik zugewandt waren, ein Automobil. Wie der Kommerzienrat der Hanfwerken, einer der größten Hanfspinnereien Deutschlands. Nur er bewegte sich damit voran. Im wahrsten Sinne des Wortes, so sah es jedenfalls die kleine Hilde:. „Als ich das Auto fahren sah dachte ich, da läuft in der Mitte einer und treibt es an.“ Wie bei Familie Feuerstein oder Buggs Bunny – die Erfinder dieser Zeichentrickfilme sind etwa zur selben Zeit geboren wie Hilde Spitaler.
Pferdestärken
Sonst gab es vor allem Pferdekutsche. 1914 oder 1915 fuhr das Mädchen oft mit einer Postkutsche, die neben Briefen und Paketen auch Personen beförderte. Hilde war auf dem Weg zur Tante im Nachbardorf. „Das Pferd tat mir immer sehr leid, weil es so ziehen musste.“ Auch in der Innenstadt lief der Schwertransport
mit Fuhrwerken. In den 1920er Jahren gab es hier noch Bauernhöfe. Die Bauern lieferten ihre Milch bei der Käserei mit Handwagen oder mit Anhängern, vor die eine Kuh gespannt war. Im Sommer wurden die Fuder Heu abenteuerlich und halsbrecherisch auf Ladewagen, vor denen Ochsen oder Haflinger
gespannt waren, durch die engen Gassen balanciert.
Fahrrad
Für das Stadtmädchen Hilde war es normal, ein Fahrrad zu haben. Für Mädchen in den umliegenden Dörfern dagegen war es lebenswichtig. Zur Arbeitsstelle als Magd oder in der Fabrik legten sie jeden Tag viele Kilometer zurück. Wer nicht zu Fuß gehen musste, war ein Glückspilz. Verließ ein Mädchen die Volksschule, wurde sie irgendwo Magd und konnte ihre Familie nur besuchen, wenn sie ein Fahrrad hatte – das hieß dann 20 Kilometer einfacher Weg, um am Sonntag nach der Kirche kurz die Mutter zu besuchen und abends wieder zur Anstellung zu radeln. Aber das Fahrrad spielte dann doch eine große Rolle im Leben
von Hilde Spitaler.
1938 hatte sie gerade ein paar unfreiwillige Wanderjahren als Friseurin hinter sich gebracht und war nach Füssen zurückgekehrt. Dabei lernte sie Josef kennen, Friseur wie sie. Man kannte sich gut, freundschaftlich. Dann ging er weg und man traf sich alle paar Wochen in München. Wochenendbeziehung nennt man das heute. Das Verhältnis wurde inniger und dann kam der Krieg. Josef musste an die Front. 1941, Hilde kam gerade von einer sonntäglichen Bergtour zurück, hieß es: Der Josef ist im Schluxen!“ Einem Gasthof im Tirol. Hilde sofort aufs Radl, Acht Kilometer. In jener Nacht fragte Josef: „Ja wollen wir nicht heiraten?“ Das war im Oktober und am 23. Dezember fand die Hochzeit statt. Nicht, weil es romantisch gewesen wäre, sondern weil Josef für diesen Tag Urlaub bekam. In der Früh um 6 Uhr, ganz schnell, nur mit den Zeugen in die Kirche. Weil Weihnachtsbetrieb im Geschäft war, gleich zurück in die Käserei, nebenbei kochen… Das war das Hochzeitsfest.
Im Juni 1945 wurde die Tochter geboren, der Krieg war gerade vorüber. Josef Spitaler war 1943 in Sibirien schwer verwundet worden, ein Explosivgeschoss hatte ihn am Arm getroffen, während des Heimtransports wurde er sieben Mal operiert. Friseur sein war vorbei, also ließ er sich umschulen. In Augsburg kam er in die Stadtverwaltung, seine Frau saß hoch schwanger in Füssen. Die Besatzer hatten Ausgangssperre verhängt, von 10 Uhr abends bis 5 Uhr früh. „Ich ging mit meiner Schwester ins Krankenhaus, aus Vorsicht, denn wenn ich während der Ausgangssperre mein Baby bekommen hätte – wie hätte ich das ohne Hilfe bekommen sollen?“ Jetzt war alles eine Frage des Timings. Um 5 Uhr früh würde die Ausgangssperre aufgehoben werden und dann fuhr gleich der Lastwagen nach Augsburg – Züge gingen. Die Geburt lief wie nach Zeitplan, die Schwester rannte zum LKW, gab dem Fahrer einen Brief und Josef Spitaler wartete in Augsburg auf Nachricht. Als er den Brief erhielt, schnappte er sich ein Fahrrad und radelte die 100 Kilometer in einem nach Füssen, nur um seine kleine Tochter zu sehen. Ungedopt.
Mobilität
Die Inflation von 1914 bis 1923 hat Hilde Spitaler noch in kindlicher Erinnerung mit Billion-Mark-Scheinen, für die es „nur einen Semmel“ zu kaufen gab. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre traf sie als junge Erwachsene. Arbeit zu finden war Glücksache. Berufswünsche waren utopisch. Lehrerin werden? Ins Büro gehen? Der Friseur nebenan suchte einen Lehrling, also lernte Hilde 1928/29 Friseurin, weil gerade jemand gesucht wurde – 2 Mark Lohn in der Woche und ein bisschen Trinkgeld. Von dem Geld kaufte sie ihre ersten Schuhe. „Monate habe ich darauf gespart und sie nur sonntags getragen.“
Aber sie erzählt auch: „Es ging nichts vorwärts, es gab keine Arbeit – das war die schlechteste Zeit, an die ich mich erinnern kann.“ Um eine Anstellung zu bekommen, musste man die Heimat verlassen. Hilde Spitaler fuhr nach Amberg, wieder zurück nach Füssen,1933 versuchte sie es in München, ging dann nach Pirmasens und nach Kottern bei Kempten. Alles was sie besaß, steckte in einem kleinen Pappkoffer. Dann wurde die Chefin krank und am Sterbebett bat sie Hilde, später den Witwer zu heiraten. Das hätte Sicherheit und ein Auskommen bedeutet, doch Hilde versprach nur: „Ich bleibe so lange bei Ihrem Mann, bis sich etwas verändert hat.“
1938 zurück nach Füssen. Friseurgeschäfte hatten zu der Zeit in einer Kurstadt wie Füssen auch sonntags geöffnet. Also werktags von 7 Uhr bis abends acht Uhr und sonntags von 7 bis 1 Uhr arbeiten. Danach ins Bett fallen und bis Montag durch schlafen. Alles für 50 Mark im Monat. Den ersten freiwilligen Umzug erlebte Hilde Spitaler als junge Mutter. Im Juni 1945 zog sie mit Baby zu ihrem Mann nach Augsburg. „Ich war glücklich. Endlich eine Familie!“ Doch im Winter 1945 wurde ihr Mann krank und starb zwei Wochen später an Blindarmentzündung. „Da ist eine Welt für mich zusammen gebrochen. Geschneit hat’s und ich lief mit seinem Mantel und seinem Hab und Gut in die Wohnung zurück.“ Noch ein, zwei Jahre hielt sie durch, dann zog sie zurück nach Füssen.
Arbeit
Friseurin lernte Hilde Spitaler, weil dort gerade jemand gesucht wurde, nicht weil es den Neigungen entsprach. Die Meisterprüfung machte sie, weil sie mit ihrem Mann einmal einen eigenen Laden führen wollte. Fachlehrerin für Friseure wurde sie, weil sie sonst nicht überlebt hätte. „Mein Mann war ja nur ein Jahr angestellt und ihm hätte erst nach 5 Jahren die Mindestrente zugestanden. So erhielt ich den fünften Teil der Mindestrente. Das waren 26 Mark und 30 Pfennig für mich und mein Kind.“ Und am Ende landete sie doch wieder vom Parfümeriegeschäft im Käs-Laden. Das elterliche Geschäft musste weiter gehen und die kleine Tochter
irgendwie groß gezogen werden. Die Alten trafen keine Altersvorsorge, sondern arbeiteten, bis sie nicht mehr konnten und dann hofften dann auf ihre Kinder. Und Hilde war Alleinerziehend und brauchte die Hilfe ihrer Eltern. Zweckgemeinschaft bis zum Tod der Eltern in den 1950er Jahren, dann die eigene Existenz bis
in die Siebziger Jahre hinein, als Tengelmann und Kaiser’s die kleinen Geschäftchen vertrieben und auch Kleinstädte den Traum der Fußgängerzone träumten.
Reisen
„Mit 75 habe ich angefangen, die Welt zu entdecken. Meine Tochter war Stewardess bei der Lufthansa und ich hatte ja Zeit.“ Mit 75 Kairo und eine Nilkreuzfahrt. Dann vier Wochen Südamerika – Buenes Aires und in Rio auf dem Corcovado. Mit 80 San Francisco . „Ich hatte immer gesagt, ich möchte mit dem Cable Car fahren und über die Golden Gate Bridge und dann sterben. Aber jetzt war ich über die Golden Gate Bridge gegangen und mir wurde mulmig. Ich dachte mir: jetzt werde ich doch nicht sterben. Man sollte vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht…“ Mit 85 Irland, mit 88 zwei mal Peking und die Chinesische Mauer, dann mit dem Enkel an den Gardasee, an ihren Lieblingssee. „1937 war ich das erste Mal dort, mit dem Bus aus Reutte. In Riva hat die Pension 3 Mark 70 Pfennig gekostet.“ Mit 90 Kanada, wieder mit dem Enkel, der dort lebte. Gemeinsam mit dem Wohnmobil durchs Land – „ich wollte immer mal so ein Zigeunerleben erleben. Das war toll.“
Zum 100. Geburtstag Gardasee, wohin sonst… Und vor ein paar Tagen kam wieder der Enkel vorbei, mit dem Motorrad. Hilde Spitaler hinten drauf und los
ging’s: „Wir sind 100 Stundenkilometer gefahren. Er sagte, mit 100 muss man 100 gefahren sein…“
Altstadt, Blumenwiese und Königsschlösser liegen hinter uns. Und Hilde Spitaler strahlt: „Das kann man sich alles gar nicht erträumen. Ich bin für alles so entschädigt worden. Ich kann noch gar nicht sterben, weil es mir noch so gut geht.“
Und wie wird man nun so alt und bleibt dabei so fit? „Einfach so weiter machen, wie man immer gelebt hat. Mit Abstrichen natürlich, langsamer. Man wird immer schneller langsamer.“
Der Artikel war eine Auftragsarbeit für ein Mitarbeitermagazin. Hilde Spitaler hat ihre Familie noch einige Jahre mit ihren Anekdoten unterhalten. 2019 ist sie 106-jährig verstorben.